Wilhelm Reich

Der Mann, der an unsere tiefsten Ängste rührte

von Hans Krieger

 

(aus: Die Zeit, 10. Oktober 1969)

 

Am 9. Mai 1928 schrieb Sigmund Freud an Lou Andreas-Salomé: "Wir haben hier einen Dr. W. Reich, einen braven, aber impetuösen jungen Steckenpferdreiter, der jetzt im genitalen Orgasmus das Gegengift jeder Neurose verehrt. Vielleicht könnte er aus Ihrer Analyse der K. etwas Respekt vor der Komplikation des Seelischen lernen."

 

Der junge "Steckenpferdreiter" hatte damals mit 31 Jahren bereits eine beachtliche wissenschaftliche Karriere hinter sich. Schon als Medizinstudent war er zu Freud gestoßen, und in die Wiener psychoanalytische Vereinigung aufgenommen worden. Er war erster klinischer Assistent, dann stellvertretender Direktor der Psychoanalytischen Poliklinik geworden, hatte ein technisches Seminar über methodische Probleme der Neurosentherapie angeregt und schließlich dessen Leitung übernommen und der psychoanalytischen Theoriebildung durch eine Reihe wertvoller klinischer Arbeiten entscheidende und oftmals kritische Impulse gegeben. (Der Triebhafte Charakter / Die Funktion des Orgasmus / Die therapeutische Bedeutung der Genitallibido / Über die Quellen der neurotischen Angst)

 

Freud muß anfangs große Stücke von diesem kräftigen und temperamentvollen Bauernsohn gehalten haben, der sich im Nu in das schwierige Gedankengebäude der Psychoanalyse hineingearbeitet hatte (als Student im dritten Semester hatte er seinen ersten Patienten), kritischen Instinkt für deren Unerledigtes und problematisches Entwickelte und fast ohne Übergang aus der Position des lerneifrigen Schülers in die vorderste Front der forschenden Mitstreiter vorgerückt war.

Erst die Öffnung des Sigmund-Freud-Archivs wird über die Stellung des Meisters zu dem einzigen seiner Schüler, der sich selbständig machte, ohne jemals undankbar zu werden, vollen Aufschluß geben. Sie dürfte so zwiespältig sein, wie Freuds Haltung in jenem Punkt, der schließlich zum Anlaß der Trennung wurde: der Anwendung der Libido-Theorie auf die gesellschaftlich Praxis.

 

Wohlwollende, leicht herablassende Ironie scheint in dem Briefzitat tiefes Unbehagen, wenn nicht sogar ein Gefühl der Bedrohung beschwichtigen zu wollen. Hatte der Briefschreiber vergessen, welch fundamentale Bedeutung für seine eigenen wissenschaftlichen Entdeckungen einmal der Charcot´sche Satz gehabt hatte: "Mais, dans des cas pareils, c´est toujours da chose genitale, toujours, toujours, toujours."

 

"Der Sexualprozeß, mit anderen Worten, der expansive biologische Lustprozeß, ist der produktive Lebensprozeß schlechthin! Das ist viel auf einmal und klingt fast ´zu einfach´. Diese ´Einfachheit´ bildet das Geheimnis, das manche in meiner Arbeit wittern.", schrieb Wilhelm Reich zwölf Jahre später, als er im amerikanischen Exil die Stationen seines wissenschaftlichen Werks zurückschauend zusammenfaßte. Damals hatte er längst sein "Adlerei" aus dem "Kükennest" genommen, wie er 1952 in einem Interview mit dem amerikanischen Psychoanalytiker Kurt R. Eissler formulierte. Aus den "Komplikationen des Seelischen" hatte er sich zu den bio-physikalischen Funktionsgesetzen vorgearbeitet. Aus der psychoanalytischen Libido-Theorie hatte er die Sexualökonomie und schließlich die Orgonomie entwickelt.

 

 

Orgonomischer Funktionalismus

 

 

Es war ein Weg, der aus dem Speziellen und Komplizierten ins Umfassendere und einfachere führte. Die physiologische und energetische Erforschung des Orgasmus lieferte die Formel. Die Neurosenentstehung, politische und geistige Unfreiheit, Anfälligkeit für faschistische Ideologie und aller Arten von Mystizismus aus einer Wurzel erklärbar machte: aus gestauter, unbefriedigter Sexualenergie.

 

Die Entdeckung der biologischen und kosmischen Orgon-Energie in jahrelangen experimentellen Untersuchungen in Oslo und später in Amerika beantwortete nicht nur die Frage, was denn Sexualenergie eigentlich sei, sondern führte zu einer abermaligen Verallgemeinerung und Vereinfachung. Mit einem Schlag, so schien es Reich, war der Schlüssel gefunden so verschiedenartiger Probleme wie der Biogenese, der Krebs-Entstehung, der Schizophrenie, der Wüsten- und Gewitterbildung, der Gravitation und der Kosmogenie. Das ist wirklich viel auf einmal! In der Einfachheit liegt in der Tat das Geheimnis des wissenschaftlichen Gedanken Reichs.

 

In seiner Methode, die er in Abgrenzung gegen Mechanismus und vitalistische Spekulation funktionalistisch (orgonomischen Funktionalismus) nennt, schloß sich Gegensätzliches im Bilde des gemeinsamen Funktionsprinzips zusammen. In energetischen Grundformeln löste sich ihm der Widerspruch zwischen Psyche und Soma, zwischen belebter und unbelebter Materie.

 

Ein Drang, zu den letzten Grundlagen des Seins vorzustoßen, scheint da am Werk zu sein. Vergleichbar den Bemühungen Einsteins und Heisenbergs um eine einheitliche Feldtheorie, eine "Weltformel". Doch offenbar verzeiht man nur mathematischer Abstraktion den Einbruch in diesen Bereich, den Religion und Philosophie sich vorbehalten haben. Der psychologische und physiologische Hintergrund der sexualökonomischen Theorie ist außerordentlich kompliziert. Seine Erforschung erstreckte sich über viele Jahre und Reich wurde nicht müde zu betonen, daß sie noch lange nicht abgeschlossen sei!

 

 

Der Kern der Theorie

 

 

Der Kern der Theorie selber aber ist in wenigen Sätzen zu fassen:

 

- "Die seelische Gesundheit" hängt von der orgastischen Potenz ab, d.h. vom Ausmaß der Hingabe- und Erlebnisfähigkeit am Höhepunkte der sexuellen Erregung im natürlichen Geschlechtsakt. Ihre Grundlage bildet die unneurotische charakterliche Haltung der Liebesfähigkeit. Die seelischen Erkrankungen sind Folgen der Störung der natürlichen Liebesfähigkeit.

 

- Bei orgastischer Impotenz, unter der die überwiegende Mehrheit leidet, entstehen Stauungen biologischer Energie, die zu Quellen irrationaler Handlungen werden. Die Heilung der seelischen Störungen fördert in erster Linie die Herstellung der natürlichen Liebesfähigkeit. Sie ist von sozialen Bedingungen genauso abhängig wie von psychischen.

 

- Die seelischen Krankheiten sind Ergebnisse der gesellschaftlichen Sexualunordnung. Diese Unordnung hat seit Jahrtausenden die Funktion, die Menschen den jeweils vorhandenen Seins-Bedingungen psychisch zu unterwerfen, die äußere Mechanisierung des Lebens zu verinnerlichen...

 

Die Lebenskräfte regeln sich natürlicherweise selbst, ohne Zwangspflicht oder Zwangsmoral; beide sind sichere Anzeichen für vorhandene anti-soziale Regungen.

 

- Die anti-sozialen Regungen entstammen sekundären, durch die Unterdrückung des natürlichen Lebens entstandenen Trieben, die der natürlichen Sexualität widersprechen.

 

- Der lebens- und sexualverneinend erzogene Mensch erwirbt eine Lustangst, die physiologisch in chronischen Muskelverspannungen verankert ist.

 

- Die neurotische Lustangst ist die Grundlage der Reproduktion der lebensverneinende Diktaturen begründenden Weltanschauungen durch die Menschen selbst. Sie ist der Kern der Angst vor selbständiger, freiheitlicher Lebensführung...

 

- Die Zentralstelle der autoritären Strukturierung der Menschenmasse ist ... die autoritäre Familie. Ihr Hauptmittel ist die Unterdrückung der Geschlechtlichkeit des Kleinkindes und des Puerilen; Natur und Kultur, Trieb und Moral, Sexualität und Leistung wurden infolge der Spaltung der Menschenstruktur unvereinbar.

 

- Die von jeher ersehnte Einheit und Widerspruchslosigkeit von Kultur und Natur, Arbeit und Liebe, Moral und Geschlechtlichkeit bleibt ein Traum, solange die Menschen die biologische Anforderung der natürlichen (orgastischen) Sexualbefriedigung nicht zulassen. Solange bleiben auch echte Demokratie und verantwortungsbewußte Freiheit Illusion. Hilflose Unterwerfung unter die chaotischen gesellschaftlichen Umstände prägt die menschliche Existenz Es herrscht die Tötung des Lebendigen in Zwangserziehung und Krieg.

 

 

Orgon-Forschung

 

 

Sieht man die Orgon-Forschung, der Reich die letzten 20 Jahre seines Lebens widmete, von ihren (vermeintlichen oder wirklichen) Ergebnissen her, so denkt man daran, daß er Akkumulatoren ersann, um die "allgegenwärtige" Orgon-Energie in konzentrierter Form medizinisch nutzbar zu machen und höchst simple Vorrichtungen zur Beeinflussung der Wolkenbildung durch Veränderungen im atmosphärischen Orgon-Potential, so könnte das eher nach alchimistischem Hokus-Pokus, bestenfalls nach einem Rückfall in vorwissenschaftliche naturphilosophische Spekulation klingen; Bloch (im "Prinzip Hoffnung") und andere haben ihren Spott darüber ausgelassen. Reich habe sich am Ende in abstrusem Mystizismus verlo ren, lautet dann auch die allgemeine Auskunft, soweit man es nicht vorzieht, ihn für geisteskrank zu erklären oder totzuschweigen!

 

Macht man sich indessen die Mühe, die Orgontheorie in ihrem Entstehungsprozeß genau zu verfolgen, so ergibt sich ein anderes Bild. So befremdend auch manches klingen mag, weil es so gar nicht in das offizielle Weltbild der Physik paßt: die Fragestellungen sind sinnvoll und werden folgerichtig entwickelt; es werden Arbeitshypothesen aufgestellt und als solche deutlich kenntlich gemacht; ihre experimentelle Überprüfung führt zu theoretischen Formulierungen, deren vorläufiger Charakter immer wieder betont wird und die durchaus nicht durchweg und vollständig den vorausgegangenen Annahmen entsprechen. Einfach und nüchtern wie der Stil des Denkens ist auch die Darstellung. Mystiker, gar Geisteskranke denken und schreiben anders!!! Ich will damit nicht sagen, daß die Orgonenergie doch existiert; ich weiß darüber nichts: Ich kann nur an der Annahme einer spezifisch biologischen Energie, kosmischen Ursprungs, (im physikalischen, nicht im metaphysischen Sinne!) nichts Mystisches finden! Die Theorie mag richtig sein oder falsch oder ein Gemisch aus Wahrheiten und Irrtümern. Darüber entscheidet nur wissenschaftliche Nachprüfung. Und die steht bis heute aus.

 

 

Gegen die freud´sche Kulturanpassungstechnik

 

 

Reich selber hat stets für sich in Anspruch genommen, Naturwissenschaftler zu sein. Darin fühlte er sich als legitimer Erbe Freuds, dessen Lebenswerk er in den Händen der Nachfolger und Schüler (und seit der Todestrieb-Hypothese auch bei Freud selber) in Pseudo-Metaphysik auf der einen Kulturanpassungstechnik auf der anderen Seite verkommen sah und dessen Prophezeiung, die Psychoanalyse werde einst ein biologisches Fundament erhalten, das einen somatischen Zugang zum Neurosenproblem eröffnen würde, er erfüllt zu haben glaubte. Der Mystik jeder Art meinte gerade er durch sexualökonomische Ableitung aus verdrängten Sexualimpulsen zwar nicht praktisch, aber theoretisch den Boden entzogen zu haben. Mythologie war ihm fremd; es wäre ihm nie eingefallen, vom "kosmogonischen Eros" zu sprechen. Die Gefahr eines Mißbrauchs seiner Theorien als politische oder pseudo-religiöse Heilslehre sah er bewußt und mit großer Sorge. Von philosophischer Spekulation hielt er nichts und von psychologischen Interpretationskunststückchen, die das tägliche Brot der Analytiker waren, immer weniger. Dafür um so mehr von einfacher, direkter Beobachtung. Im Alter hat er gerne Goethe zitiert:

 

"Was ist das schwerste von allem?
was dir das leichteste dünket:
mit den Augen zu sehen,
was vor den Augen dir liegt."

 

War es dieser Zug zum Einfachen, der den Meister der Analyse des Diffizilen zu freundlichem Spott reizte? Die Wendung von der "Komplikation des Seelischen" - der Reich in seinen frühen klinischen Arbeiten durchaus und ausgiebig analytischen Respekt erwiesen hatte - legt diese Deutung nahe. Möglicherweise ist Freud damit dem gleichen Mißverständnis erlegen, dem heute auch vielfach die junge Linke aufsitzt, wenn sie sich ihrer politischen und sexuellen Rebellion auf Reich bezieht:

 

Dem Mißverständnis, Einfachheit des theoretischen Ansatzes - was bei Reich nicht Verkennung der phänomenologischen Vielfalt des Psychischen heißt, sondern ihre Rückführung auf ein gemeinsames Funktionsprinzip - sei gleichbedeutend mit einer Vereinfachung der praktischen Probleme. In den Wörtern "brav" und "Steckenpferdreiter" aber schwingt ein unüberhörbarer Unterton von Verharmlosung mit, als zögere Freud, sich die volle Tragweite eines Konfliktes voll einzugestehen, dessen fundamentale Bedeutung ihm doch schwerlich entgangen sein kann. Denn Wilhelm Reich schickte sich soeben an, einen Schritt zu tun, vor dem Freud zurückschreckte: aus der Libido-Theorie soziale Konsequenzen zu ziehen. Die Tätigkeit an der Psychoanalytischen Poliklinik hatte Reich die Neurose als Massenproblem vor Augen geführt: undenkbar, mit den Mitteln der kostspieligen und langwierigen Einzelbehandlung dieses Massenelends jemals Herr zu werden; ohnehin waren die therapeutischen Erfolge problematisch. Die Behandlung von Menschen aus den unteren Sozialschichten hatten offenbart, wie die seelischen Nöte durch materielle potenziert werden, und die die feudal-großbürgerlichen Züge an der individualistischen Haltung der Psychoanalytiker enthüllt: die Formulierung des Ödipus-Komplexes, das Postulat einer sexuellen Latenz-Periode zwischen Frühkindheit und Pubertät waren als Erfahrungen im bürgerlichen Milieu geschöpft. Soziologische Fragestellungen drängten sich damit auf! Das war die eine Seite. Auf der anderen stand die unerledigte Frage, was mit der verdrängten Libido zu geschehen habe, wenn die Ver drängungen aufgehoben waren. Freuds Auskunft (Sublimation oder bewußte Unterdrückung) konnte nicht befriedigen, denn die Erforschung des Orgasmus hatte die biologische Notwendigkeit normaler sexueller Entspannung und die Gesundheitsschädlichkeit dauernder Abstinenz erwiesen. Die Erkenntnis, daß die Verdrängung der frühkindlichen Sexualität der entscheidende ätiologische Faktor in der Neurosenentstehung war, forderte endlich Konsequenzen für die Neurosenprophylaxe:

 

"Ich verstand nicht, wie Freud glauben konnte, daß die Entdeckung der kindlichen Sexualität keinerlei weltverändernde Wirkung haben könnte."

 

Die ethnologischen Forschungen Malinowskis hatten Zweifel an der Allgemeingültigkeit der wichtigsten freud´schen Thesen die empirische Grundlage geliefert daß der Ödipuskomplex unausweichlich und der psychische Grundkonflikt schlechthin sei (er ist vielmehr ein Produkt einer bestimmten Familienorganisation; mutterrechtliche Kulturen kennen ihn nicht!), vor allem aber, daß Triebunterdrückung kulturnotwendig sei. Die Einwohner der Trobriand-Inseln haben bei großer sexueller Freiheit, namentlich im Kindes- und Jugendalter, eine relativ hohe Kulturstufe erreicht und kommen im Unterschied zu Völkern mit gleichem Zivilisationsstand, aber streng sexualverneinender Moral, ohne Sadismus und Gewaltverbrechen, ohne Zwangsneurosen und Psychosen aus. Die Moral der Sexualverneinung, geformt in Jahrtausenden patriarchalischer Kultur zu einem wirksamen Instrument, Menschen unselbständig und unterwürfig zu machen, schien also die eigentliche Wurzel des Übels zu sein.

 

Die Frustration biologischer Grundbedürfnisse von der frühesten Kindheit an, schuf den Nährboden, auf dem neurotische Symptombildungen und neurotische Charaktere gediehen. Sie erklärte die Macht der Religionen, die das verweigerte sexuelle Glück in mystischen Entstellungenins Jenseits projizieren und in den Verzückungen des Kultes Ersatz-Orgasmen anbieten; sie erklärte die Bereitschaft der Massen, entgegen ihren vitalen Grundbedürfnissen diktatorischen Führern zu folgen und die wirtschaftliche Sklaverei in geduldiger Resignation widerstandslos zu ertragen. Das entscheidende Problem war dann, wie trotz allem scheinbar psychisch gesunde Menschen geben konnte...

Reich warf die Frage auf, ohne sie befriedigend zu beantworten. Aber sie verlor auch an Bedeutung, wenn die gesunde Normalität selbst fragwürdig zu werden begann. Auf die individuelle Neurose kam es kaum noch an; die Menschheit als Ganzes war durch Unterdrückung natürlicher biologischer Funktionen krank geworden.

 

In langsamem Vortasten formte sich eine Theorie, die in die Praxis drängte. Ihr Kern war die psychoanalytische Libido-Theorie. Aber die Konsequenzen sprengten das Gebäude der esoterischen Wissenschaft, die die Psychoanalyse darstellte.

 

Freuds Wiederentdeckung der seit Jahrtausenden verdrängten kindlichen Sexualität, sein Nachweis des Zusammenhangs von Sexualverdrängung und Neurose war eine revolutionäre Tat, deren sprengende Kraft von den weltanschaulichen Gegnern der Psychoanalyse klar erkannt worden war, die sie selber aber vor sich verbarg! - Der weitere Ausbau der Theorie hatte den revolutionären Kern verdunkelt.

 

Die zum Fundament der psychoanalytischen Kultutheorie gewordene These, daß Triebverzicht zur Entwicklung reifer Sozialbeziehung unerläßlich sei, war eine Geste der Beschwichtigung, dazu bestimmt, die Psychoanalyse von dem Verdacht des "Kulturbolschweismus" reinzuwaschen und ihre Harmlosigkeit zu erweisen.

 

Ihre Widersprüche waren offenkundig: Was als kulturnotwendig ausgegeben wurde, erzeugte zugleich Neurosen, die die Kulturfähigkeit des Menschen auf das Schwerste beeinträchtigten. Das "Realitäts-Prinzip", dem das ICH seine Lustansprüche zu opfern hatte, entzog die gegebenen gesellschaftlichen Zustände kritischer Reflexion und verändernder Praxis: wer sich nicht anpaßte war neurotisch-infantil.

 

Der krönende Abschluß dieses Anpassungsprozesses war die Todestrieb-Hypothese, mit der die Psychoanalyse sich bürgerlicher Dekadenz-Philosophie auslieferte; nun ließ sich gesellschaftlich bedingtes Leiden einem angeblich biologisch verankerten Leidenswillen zur Last legen!

 

 

Maxismus und Psychoanalyse

 

 

1928 gründete Reich eine "Sozialistische Gesellschaft für Sexualberatung und Sexualforschung". Er richtete Sexualberatungsstellen ein und begann mit Massenversammlungen über Sexualprobleme. Der Mißerfolg der bürgerlichen Sexualreformbewegung, deren innere Widersprüche Reich in seiner Schrift "Geschlechtsreife, Enthaltsamkeit, Ehemoral" analysierte (1930), später aufgenommen in "Die Sexualität im Kulturkampf" und die eigenen Erfahrungen in der Massenarbeit ließen keinen Zweifel, daß eine befrie digende Lösung der sexuellen Frage innerhalb der bestehenden Sozialordnung aussichtslos war. Um 1927 hatte Reich begonnen, Marx und Engels zu studieren. Die Hoffnungen der progressiven europäischen Intelligenz waren damals nach Moskau gerichtet; auch Freud hatte sich von dem sowjetischen Experiment anfänglich viel versprochen. Mit dem Versuch, zwischen Marxismus und Psychoanalyse eine Brücke zu schlagen, stand Reich nicht allein da. Aber er als einziger fand eine Synthese, die den revolutionären Gehalt beider Theorien nicht wechselseitig relativierte, sondern steigerte. Und er ließ es bei der theoretischen Annäherung nicht sein Bewenden haben.

 

 

 

Reichs Lebensweg

 

 

1930 siedelte Reich nach Berlin über. Er baute seine Bewegung für "Sexualökonomie und Politik" auf, die sich abgekürzt SEXPOL nannte, und als Gruppe innerhalb der kommunistischen Arbeiterbewegung verstand, und er trat der kommunistischen Partei bei. Der Sozialismus sollte die materielle Basis für die sexuelle Befreiung der Massen schaffen.

 

Freuds Psychoanalyse hatte damals nach langen Jahren der Verfehmdung endlich ein gewisses Maß an Anerkennung gefunden; sie war zu einer weltweiten Bewegung geworden. Reichs politische Aktivitäten mußten diesen Erfolg gefährden. Der emotionale Charakter der internen Diskussion läßt Angst und Unsicherheit erkennen.

1932 wollte Reich in der "Internationalen Zeitschrift für Psychoanalyse" eine Arbeit über den ´masochistischen Charakter´ publizieren (später in die ´Charakteranalyse´ aufgenommen) . Es handelte sich um eine klinische Studie von erheblicher theoretischer Bedeutung. Indem sie anhand klinischen Materials nachwies, daß der Masochist nur durch reale oder phantasierte Bestrafung die Schuldangst vor genitaler Befriedigung überwinden kann, die Strafe selbst also nicht lustbetont erlebt, sondern als Mittel zur lustvollen Entspannung braucht, machte er die Annahme eines ´Primär-Masochismus´, der die Grundlage der Todestrieb-Spekulationen lieferte, überflüssig.

 

Daß die Todestrieb-Hypothese dazu diente, gesellschaftliche Konflikte zu biologisieren und damit naheliegende soziale Konsequenzen zu verschleiern, klang in einem halben Satz vorsichtig an. Der Schlußteil stellte die ursprüngliche freud´sche Neurosenformel wieder her, die durch die Annahme des ´Primär-Masochismus´ verfälscht worden war: nicht der Konflikt zwischen Libido und einem hypothetischen Strafwunsch, sondern der Konflikt zwischen Libido und Strafangst, der sich allgemeiner als ein Konflikt zwischen Bedürfnissen und Außenwelt formulieren läßt, erzeugt die Neurose. Die Darlegung blieb strikt im Rahmen einer theoretischen Erörterung und versagte sich ausdrücklich gesellschaftspolitischen Folgerungen; daß einmal das Stichwort "privatwirtschaftliche Gesellschaft" fiel, war der einzige Hinweis, aus dem ein geübtes Auge aufs den derzeitigen politischen Standort des Verfassers erraten konnte. Freud als Herausgeber der Zeitschrift wollte den Aufsatz nur mit einer distanzierten Vorbemerkung drucken lassen, derzufolge der Verfasser als Mitglied der "bolschewistischen Partei" an kommunistische Dogmen gebunden sei.

 

Es war Siegfried Bernfeld, der dagegen mit dem bemerkenswerten Argument opponierte, das könnte als Kriegserklärung an die Sowjetunion gewertet werden, in der gerade eine heftige Diskussion über die Vereinbarkeit der Psychoanalyse mit dem Dialektischen Materialismus im Gange war. Stattdessen sollte Reichs Artikel zusammen mit einer Entgegnung veröffentlicht werden. Diese Entgegnung, von Bernfeld verfaßt, ging weder auf Reichs klinische Beobachtungen noch auf das Masochismusproblem ein, sondern begnügte sich - nach weitschweifigen Exkursen über die marxistische Psychoanalysediskussion, die mit der Sache nichts zu tun hatte - damit, Reichs Aufsatz als eine kommunistische Arbeit abzutun, die wissenschaftliche Untersuchung mit "Tagesagitation zu unmittelbaren Parteizwecken" vermenge.

 

Ein Jahr später schien Reichs Name politisch bereits so belastet, daß sein analytisches Hauptwerk, die Charakteranalyse nicht mehr im Internationalen Psychoanalytischen Verlag erscheinen konnte, obwohl er noch Mitglied war. Reich glaubte später, daß Freud ihn im Grunde verstanden habe, aber schon zu alt und zu resigniert gewesen sei, um noch einmal den einsamen Kampf der Pionierjahre durchzustehen. Reichs sexualpolitische Position zu billigen hätte bedeutet, die psychoanalytische Organisation zu opfern.

 

Im Jahre 1930 kam es zu einer entscheidenden Aussprache. Nach der Darstellung, die Reich davon gibt, sagte Freud, Reich habe entweder unrecht, oder er werde "ganz allein das schwere Los der Psychoanalyse tragen" müssen. Die Prophezeiung trat ein. Mag Reich auch noch in der antifaschistischen Bewegung eine Rolle gespielt und in manchen Emigranten-Zirkeln als Geheimtip gegolten haben, mag er seine eigene Zeitschrift besessen haben (Zeitschrift für politische Psychologie und Sexualökonomie später das International Journal for Sex-Economy and Orgone Research) und von einem kleinen Kreis von Anhängern umgeben gewesen sein - sen Weg verlief fortan in jener wissenschaftlichen Isolation wie Freud sie in den eigenen ersten schweren Jahren kennengelernt hatte. Zur gleichen Zeit, da die faschistische Machtergreifung Reich zum Verlassen Deutschlands zwang, stieß ihn die Kommunistische Partei "als konterrevolutionären Trotzkisten" aus und strich ihn die Internationale Psychoanalytische Vereinigung aus der Liste ihrer Mitglieder (Ernest Jones - der offizielle Freud-Biograph - fälschte das später in einen ´freiwilligen´ Austritt um!). Sein Name verschwand fast völlig aus der psychoanalytischen Literatur. Bis heute bringen nur wenige Psychoanalytiker die Fairneß (inzwischen wohl auch schon das bloße Wissen) auf, wenigstens die Orgasmusforschung Reichs und seinen Beitrag zur analytischen Charakterforschung anzuerkennen.

 

Reichs Forschungen über die Orgon-Energie wurden von der offiziellen Wissenschaft nicht einmal mehr einer Widerlegung gewürdigt, sondern mit Schweigen übergangen. Ernst nahm ihn noch die amerikanische "Federal Food and Drug Administration". 1954 erhob sie Anklage wegen eines Verstoßes gegen den "Food and Drug Act": Die Herstellung und Verbreitung von Orgon-Energie-Akkumulatoren wurde als medizinischer Betrug gewertet. Reich weigerte sich, in einer Sache, über die allein die Wissenschaft zu befinden habe, als Angeklagter vor Gericht zu erscheinen. Im Mai 1956 wurde er zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt, seine wissenschaftlichen Geräte wurden zerstört, seine Schriften verboten und zum Teil sogar verbrannt!

 

Am 3. November 1957 starb Reich im Gefängnis von Lewisburg, Pennsylvania.

 

Was der späte Reich die "emotionelle Pest" nannte: der organisierte Haß neurotisch verkrüppelter Organismen gegen das wahre Lebendige, hatte endgültig zugeschlagen. Die heftige emotionale Abwehr, der die Sexualökonomie in allen weltanschaulichen Lagern begegnete, bewies ihm, daß er an die tiefsten Ängste der Menschheit gerührt hatte.

 

 

Neubeginn einer Auseinandersetzung

 

 

Zögernd scheint jetzt die Auseinandersetzung mit dem Werk Wilhelm Reichs wieder einzusetzen.

 

Sie spielt sich derzeit noch vorwiegend in den Zirkeln der anti-autoritären Linken ab, für die Reichs massenpsychologische Interpretation der politischen und sozialen Unfreiheit und seine Analyse des Masochismus der Unterdrückten eine große theoretische Bedeutung gewonnen haben.

 

Von kaum einem anderen Autoren wurden so viele Raubdrucke in Umlauf gebracht. Man lernt, diesem Kampf gegen das "bürgerliche Copyright" seine guten Seiten abzugewinnen, wenn man erlebt hat, wie schwierig es ist, Reichs Schriften über Bibliotheken zu beschaffen.

 

- "Die Funktion des Orgasmus", erster Band eines zweibändigen Werks über die Entdeckung des Orgons und nicht zu verwechseln mit dem Frühwerk gleichen Titels, ist eine Art wissenschaftlicher Autobiographie und daher die beste Einführung in das reich´sche Denken, weil es seine Theorien in ihrem Entstehungsprozeß begreifen läßt.

 

- "Die sexuelle Revolution" - zur charakterlichen Selbststeuerung des Menschen - enthält die Summe von Reichs Vorstellungen zu Beginn der dreißiger Jahre. Der zweite Teil dieses Buches, einige Jahre später geschrieben als der erste, der zunächst unter dem Titel "Geschlechtsreife, Enthaltsamkeit, Ehemoral" für sich neu erschienen war, analysiert die Widersprüche der gescheiterten sexuellen Revolution in Rußland in legt in dem endgültigen Sieg der sexuellen Reaktion eine der entscheidenden strukturellen Ursachen für die autoritäre Entartung des Sowjetkommunismus bloß.

 

- Zusammen mit dem Buch "Die Massenpsychologie des Faschismus" stellt er Reichs sexualpolitischen Beitrag zur Zeitgeschichtsforschung dar. Der erste Teil diskutiert die Probleme der sexualverneinenden Moral in ihrem ideologischen und institutionellen Zusammenhang, unterwirft die auf Pflicht gegründete "Zwangsfamilie" als ideologische Keimzelle des autoritären Staates einer fundamentalen Kritik ("Untertanenfabrik") und stellt als Gegenentwurf das Modell sexualökonomischer Selbststeuerung gegenüber, in der durch natürliche Befriedigung der vitalen Bedürfnisse normative Regeln überflüssig werden. Ihre Voraussetzung ist die Beseitigung materieller Abhängigkeit und die gesellschaftliche Aufzucht der Kinder, durch die die inzestuösen Konflikte (Ödipuskonflikt) und die daraus resultierenden Bindungen an die Eltern vermieden werden sollen.

 

Die Moral könne dann absterben wie nach der lenin´schen Erwartung der Staat.

 

 

 

Das Schichtenmodell des Kulturmenschen

 

 

Dieser Gegenentwurf, auf den ersten Blick bare utopische Schwärmerei, wird verständlich erst vor dem Hintergrund des reich´schen Schichtenmodells des Kulturmenschen:

 

"An der Oberfläche trägt er die künstliche Maske der Selbstbeherrschung, der zwanghaften unechten Höflichkeit und der gemachten Sozialität. Damit verdeckt er die zweite Schicht darunter, das freud´sche Unbewußte, in dem Sadismus, Habgier, Lüsternheit, Neid, Perversionen aller Art usw. in Schach gehalten werden, ohne jedoch das Geringste an Kraft einzubüßen.

 

Diese zweite Schicht ist das Kunstprodukt der sexualverneinenden Kultur und wird bewußt meist nur als gähnende innere Leere und Öde empfunden. Hinter ihr, in der Tiefe, leben und wirken die natürliche Sozialität und Sexualität, die spontane Arbeitsfreude, die Liebesfähigkeit. Diese letzte und erste Schicht, die den biologischen Kern der menschlichen Struktur darstellt, ist unbewußt und gefürchtet. Sie ist gleichzeitig die einzige reale Hoffnung, die der Mensch hat, das gesellschaftliche Elend einmal zu bewältigen. Alle Diskussionen über die Frage, ob der Mensch gut oder böse, ein soziales oder ein unsoziales sei, sind philosophische Spekulationen. Ob der Mensch ein soziales Wesen oder ein merkwürdig vernunftlos reagierender Protoplasmahaufen ist, hängt davon ab, ob seine biologischen Grundbedürfnisse in Einklang oder im Widerspruch stehen mit den Einrichtungen, die er sich geschaffen hat."

 

Die Triebfeindliche Moral erzeugt selber erst das Chaos, zu dessen Bewältigung sie sich berufen fühlt!

 

Die dahinterstehende Überzeugung lautet in der allgemeinen Formulierung so:

"Das Lebendige ist in sich vernünftig!"

 

Im Munde eines Psychoanalytikers ein ungeheuerlicher Satz - aber Reich fühlte sich immer weniger als Psychoanalytiker.

 

Keine Beteuerung taucht in dem Interview mit Eissler so beharrlich wieder auf wie die, daß er mit der Psychoanalyse nichts mehr zu schaffen habe, sich nicht mehr für sie interessiere. Reich fühlte sich als Biologe. Und für einen Biologen ist der Satz schon weniger erstaunlich. Im außermenschlichen Bereich ist die Vernünftigkeit des Lebendigen evident. Die wenigen Parallelen zu den Orgien menschlicher Zerstörungswut, die die Verhaltensforschung aus dem Tierreich beibringen konnte, (etwa bei Ratten), lassen sich ausnahmslos aus Störungen des normalen biologischen Funktionierens unter unnatürlichen Umweltbedingungen verstehen.

 

 

Reich und die anti-autoritäre Bewegung

 

 

Argumente von Reich, herausgelöst aus ihrem theoretischen Zusammenhang, haben in die bürgerlich-liberale Sexualreform und Ehekritik als beliebige Versatzstücke Eingang gefunden. Ernsthafter wurde die Auseinandersetzung in der revolutionären Linken geführt. Ohne den Einfluß Reichs - mag dieser Einfluß auch vielfach ein vermittelter sein - wäre weder die für ältere Sozialisten so befremdliche Verbindung der politischen Revolution mit der sexuellen zu verstehen, noch die sexualpolitischen Forderungen der sozialistischen Schülerbewegung, noch die Kommune als Sozialisationsmodell, noch das Programm der anti-autoritären Erziehung. Die Selbstdarstellung der Berliner Kommune II im Kursbuch No 17 ist ein anschauliches Beispiel für die Problematik des Versuchs, Grunderkenntnisse der reich´schen Sexualökonomie direkt in gesellschaftliche Praxis umzusetzen. Im Zentrum steht der Schritt von der bloßen passiven Duldung der kindlichen Sexualität - was für Reich immer noch vollgültiger Sexualverneinung gleichkommt - zu deren ausdrücklicher und unmißverständlichen Bejahung. Es ist leicht, sich über die offen eingestandene Hilflosigkeit dieses Versuchs zu mokieren; das ist von bürgerlich-liberaler Seite wie auch von sozialistischer Seite geschehen. Das Experiment mag, in der Hand von Menschen, die selber in neurotische Hemmungen verstrickt sind, und inmitten einer ganz anders strukturierten Umwelt zum Scheitern verurteilt sein und gefährliche Risiken bergen.

 

Es ist gleichwohl um vieles ehrlicher und politisch wie psychologisch reflektierter als pauschale Agitation für "sexuelle Freiheit", bloße Institutionen-Kritik oder der Wahn mancher Sexualrevolutionäre im Freisetzen von Perversionen und Obszönität stecke ein befreiendes Moment.

 

Die Unterscheidung natürlicher Genitalität von ihren pathologischen Verbiegungen in einer triebfeindlichen Kultur ist für das Verständnis von Reich fundamental. Eine sexuelle Revolution, die nicht das Problem der neurotischen Charakterstrukturen löst, hat mit Sexualökonomie nichts zu tun. Reich war kein linker Kolle!

 

Das die Kernfrage in der frühkindlichen Erziehung liegt, wurde von der Kommune II im Prinzip richtig erfaßt. Reich kam von der Sexualwissenschaft und fand vorübergehend den Weg in die Politik. Der sexualpolitische Flügel der heutigen jungen Linken verwendet die Sexualität als Instrument im politischen Kampf. Dieser Unterschied der Perspektive ist entscheidend. Er erklärt viele kurzschlüssige Fehlinterpretationen und mußte bei den Klügeren unter den Wortführern der jungen Linken auch zu einer Kritik an Reich führen. Das System der Menschenbeherrschung schreibt Raimund Reiche in seinem gerade in seinen Mißverständnissen lehrreichen Buch "Sexualität und Klassenkampf", habe bei der sexuellen Revolution derart raffinierte Anleihen gemacht, daß die befreiende Kraft der Sexualität unsicher geworden sei. Das scheint auf den ersten Blick richtig - die von Marcuse entlehnte Theorie der "repressiven Entsublimierung" beschreibt einen kaum zu leugnenden Tatbestand, aber auf unzulängliche Weise. Der Wirkungsmechanismus bleibt im rein klassenkämpferischen Horizont ohne sexualökonomische Einsicht unbegriffen. Nur auf der Grundlage einer in früher Kindheit durch repressive Erziehung erworbenen sexual-ängstlichen Struktur kann die quantitative Vermehrung sexueller Freiheit dazu dienen, den Menschen gefügig zu machen, weil diese Freiheiten als Gewährung von etwas an sich Verbotenem erlebt werden. Die Schuldangst bleibt unbewußt fortbestehen und erfährt lediglich eine Entlastung dadurch, daß anonyme gesellschaftliche Mächte die Verantwortung übernehmen. Das macht abhängig und unterwirft die sexuellen Bedürfnisse, die dabei prinzipiell unbefriedigt bleiben, manipulativer Außensteuerung; Sex wird einbezogen in die Konsumzwänge der Warenwelt. Im Überwucherwerden genuin-genitaler Strebungen durch infantilen Narzißmus (Prestige durch "attraktive" Partner, idolisierte Männlichkeit und Super-Weiblichkeit) wird der Scheincharakter dieser Art sexueller Freiheit evident. Das ist in der Tat das Gegenteil von dem, was Reich unter Selbstregulierung verstand. Echtes sexuelles Glück ist nach Reich zwar nicht gegen natürliche Abstumpfung, wohl aber gegen den bloßen Reiz des Neuen immun. Das unter den heutigen Bedingungen einer sexuell unfreien Gesellschaft auch die Abstumpfung in der Regel neurotisch bedingt sei, hat er deutlich ausgesprochen.

 

 

Orgastische Potenz

 

 

Reich legte den größten Wert darauf, daß man ihn nicht verstehen könne, wenn man seine Orgasmus-Theorie und den Begriff der "orgastischen Potenz" nicht verstanden habe.

 

Diese ist "Die Fähigkeit zur Hingabe an das Strömen der biologischen Energie ohne jede Hemmung; die Fähigkeit zur Entladung der hochgestauten Energie durch unwillkürliche lustvolle Zuckungen."

 

Der entscheidende Akzent liegt dabei auf dem Wort "unwillkürlich". In der letzten Phase des Koitus vor der Akme gehen die anfänglich noch willkürlich kontrollierten Friktionen in reflektorische Zuckungen über. Diese sind eine biologische Grundfunktion, die sich schon in der Zellteilung der Amöbe findet, und unerläßlich zur natürlichen Regulierung des Energiehaushaltes des Organismus sind; ihr Ausbleiben, die "orgastische Impotenz", das untrügliche Anzeichen einer neurotischen Störung. Erst von daher erhält Reichs Neurosenformel ihren Sinn und seine Sozialkritik ihre Tiefe. Erst die Abgrenzung der orgastischen Potenz von der bloß erektiven Potenz, die bis dahin mit sexueller Potenz schlechthin gleichgestellt worden war, machte es möglich, die Genitalstörung als das Zentralsymptom der Neurose und ihre Energiequelle zu erweisen und die Menschheit als Ganzes sexuell krank zu nennen, ohne mit der unleugbaren Tatsache in Widerspruch zu geraten, daß die meisten Menschen doch ein scheinbar natürliches Liebesleben führen. Der "Orgasmusreflex" war eine fundamentale biologische Gegebenheit, aber unter Kulturmenschen eine große Rarität und darum auch so lange von der Forschung unbemerkt geblieben. Unter dem Druck der Jahrtausende alten sexualverneinenden Moral hatten die Menschen nahezu ausnahmslos die volle orgastische Potenz verloren, waren also in ihrem Energie-Haushalt gestört. Nur unter dieser Voraussetzung ließ sich der Zustand einer tief asozialen und zu verantwortlicher Freiheit unfähigen und irrationalen Wahnideen verfallenden, in Kriegen sich selbst zerfleischenden Menschheit nach dem Modell von Charakterneurose, aus dem Mechanismus von Lustangst, Energiestau und Panzerung erklären. Einmal entstanden, entwickelte dieser Zustand seine eigene Dynamik. Durch die im Klima der Lustangst unausweichliche Unterdrückung der kindlichen Sexualität in jeder neugeborenen Generation reproduzierte er sich fortwährend selbst, bis durch Wissen und rationale Beherrschung des sozialen Prozesses ein Ausbruch aus dem verhängnisvollen Zirkel gelang.

 

 

Ursprung der Sexualunterdrückung

 

 

Es blieb die große Frage nach dem Ursprung dieser "Fehlentwicklung der Natur". In der "Sexuellen Revolution", dann im "Einbruch der sexuellen Zwangsmoral" auch noch 1940, als er die "Funktion des Orgasmus" niederschrieb, begnügte sich Reich mit einer sozio-ökonomischen Argumentation: Die Sexualunterdrückung setzte ein beim Übergang von der mutterechtlichen zur vaterrechtlichen Gesellschaft und vom Urkommunismus zur Privatwirtschaft; sie sei das Instrument, mit dem das Patriarchat seine Herrschaft durchsetzt und sichert. Im Alter scheint er schwankend geworden zu sein. Seiner eigenen Theorie nach hätte ja schon das Auftauchen patriarchalischer Herrschaftsgelüste durch eine Störung des natürlichen Sexuallebens erklärt werden müssen; sie gehörten der zweiten Schicht, der durch die Sexualunterdrückung entstandenen sekundären Triebe an, setzten also voraus, was sie zu erklären schienen. In "Cosmic Superimposition" (1951) schreibt er dann auch, die sozioökonomischen Prozesse, die die ursprüngliche Sozialität des Menschen zerstört und ihn autoritären Zwängen unterworfen hätten, seien selbst schon das Ergebnis einer fundamentalen biologischen Abirrung. Versuchsweise deutet er diese als eine Begleiterscheinung der Entwicklung von der Selbstwahrnehmung als einem Grundphänomen des lebenden Protoplasma zum rationalen Denken. Indem der Mensch sein Erkenntnisvermögen auf sich selbst anwendete, sich selber damit zum Objekt wurde, mußte, muß er irgendwann seine eigene Lebendigkeit als etwas erschreckend Fremdes, überwältigendes erlebt und darauf mit Angst und Abwehr reagiert haben. Reich betont, daß diese Hypothese nur ein Gedankenexperiment sei, abgeleitet aus klinischen Beobachtungen (sie entspricht im Wesentlichen seiner Theorie der Schizophrenie-Genese). Das Problem bleibt ausdrücklich als ungeklärt stehen.

 

 

Die Kinder sind noch nicht geboren
die nach den natürlichen Lebensgesetzen
leben werden

 

 

Die Implikationen, die diese Wendung für die Frage nach der Reversibilität des biologischen Spaltungsprozesses hat, für Reichs Hoffnung, der Mensch werde heimfinden in die Natur, es werde Kultur und Trieb versöhnt, hat er meines Wissens nicht mehr diskutiert. Den Glauben, auf politischer Ebene und mit politischen Mitteln, seien sie revolutionär oder nicht, lasse sich das Problem der neurotischen Struktur des Menschen lösen, hatte er längst, enttäuscht von den Kommunisten, die er nun nur noch die "roten Faschisten" nannte, als naiv abgetan. (Dies muß man wissen, wenn man heute die "Sexuelle Revolution" liest.)

 

Mit Verachtung sprach er von den "freedom peddlers", den Freiheitshausierern, die Glückserwartung wecken und ausnutzen, aber sie nicht zu erfüllen vermögen, weil Freiheit, Demokratie, Selbstverantwortung unter biologisch erstarrten, zur Sexualverneinung erzogenen Menschen nicht gedeihen können und sexuelles Glück nicht durch die Herstellung von äußeren Bedingungen zu garantieren ist. Wenn er hoffte, so auf kommende Generationen; den Lebenden war nicht mehr zu helfen.

 

"Die Kinder sind noch nicht geboren, die nach den natürlichen Lebensgesetzen leben werden." (Murder of Christ, 1953) Immer schärfer war er sich der Gefahren bewußt, die mit der Aufhebung Jahrtausende alter Verdrängungen verbunden waren. "Wenn einer den Mut und die Macht hätte, zu deklarieren, daß Freiheit und Selbstregulierung von heute auf morgen eingeführt werden, dann würde die größte Katastrophe der Menschheitsgeschichte unser Leben wie eine Flut hinwegspülen." (Murder of Christ) Worauf er hoffte, war ein langer Evolutionsprozeß, der viele Jahrzehnte, aber auch Jahrhunderte dauern könnte, indem das Wissen von den natürlichen Gesetzen des Lebens sich allmählich durchsetzen würde. Die Lockerung der sexuellen Zwangsmoral in den letzten Jahrzehnten und die zunehmende sexuelle Toleranz in der Erziehung verstand er als hoffnungsvolle Anzeichen und zum Teil als Erfolg seiner Arbeit. Aber er war weit davon entfernt, dieses Maß an äußerer sexueller Freiheit für Menschen, die strukturell zum vollen sexuellen Glück noch nicht fähig waren, für jene biologische Revolution zu halten, die notwendig war, die gesamte Menschheit von der Geißel der Irrationalität und Selbstzerstörung zu befreien.


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«Gott» ist die Natur, und Christus ist die Verwirklichung des Naturgesetzes.


Gott (Natur) hat die Genitalien bei allen Lebewesen geschaffen. Er hat das getan, damit diese nach natürlichen, göttlichen Gesetzen funktionieren. Deshalb ist es weder Sakrileg noch Blasphemie, dem Verkünder Gottes auf Erden ein natürliches, göttliches Liebesleben zuzuschreiben. Dieses ist im Gegenteil die Verwurzelung Gottes in der reinsten Tiefe des Menschen.


Diese Tiefe existiert im Leben von Anfang an. Die Fortpflan- zungsfunktion kommt erst in der Pubertät zur Genitalität hinzu.


Die göttliche, genitale Liebe ist schon lange vor der Fortpflan- zungsfunktion da; deshalb wurde auch die genitale Umarmung von der Natur bzw. von Gott nicht nur zum Zweck der Fortpflanzung geschaffen.

 

Wilhelm Reich, aus dem Vorwort des "Christusmord"

 


 

Im Hintergrund sehen Sie das Standbild einer grafischen Darstellung von Kreiselwellen. Unter diesem Link finden Sie Kreiselwellen in einer bewegten Trick-Animation. (Für eine bildschirmfüllende Darstellung betätigen Sie bitte die Taste F11). Diese grafische Darstellung kann die Kreiselwellen nur annähernd zeigen. Was Sie tatsächlich am Himmel sehen, kann sich davon erheblich unterscheiden.

Kreiselwellen sind optische Erscheinungen der Orgon-Energie, die immer nur subjektiv wahrnehmbar sind, d.h. man kann sie nicht fotografieren oder filmen - sie existieren nicht als eigenständiges, objektives Phänomen. Deshalb gehören sie für den Verstand nicht zur "Realität" - dennoch können sie von fast allen Menschen wahrgenommen werden. Hier auf www.orgon.de finden Sie detallierte Anleitungen (auch als kostenloses mp3-Hörbuch), wie Sie die Lebens-Energie sehen, hören und fühlen können.

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„Haben Sie schon mal über wirkliche Freiheit nachgedacht Willard? Freiheit von den Meinungen Anderer, sogar von den eigenen Meinungen?“

 

Colonel Walter E. Kurtz im Film Apocalypse Now