Die wirkliche Gefahr, wenn sich Menschen ihrer natürlichen, lebendigen Sexualität öffnen, ist die Konfrontation mit der emotionellen Pest. Sie wird weiterhin alles tun, um das natürliche sexuelle Leben zu verhindern, zu besudeln und zu verleumden, dreckige Witze über natürliche Sexualität zu reißen, sie zu kommerzialisieren, aus ihr eine Sekte zu machen und sie der übelsten kriminellen Machenschaften zu bezichtigen. Es ist das, was die Pest seit Jahrtausenden mit der sexuellen Liebe getan hat. Warum sollte sie gerade jetzt aufhören? Was sie einzig und allein stoppen kann, ist, sie in das Licht der Erkenntnis zu zerren, sie öffentlich zu benennen, wo sie versucht, sich zu verbergen. Es hilft nur, ihre Bosheit aufzuzeigen, wo sie sich hinter scheinbar ehrbaren und hohen moralischen Werten versteckt.
Christusmord von Wilhelm Reich ist das wirksamste Medikament gegen die emotionelle Pest, vielleicht das wirksamste Medikament unter allen Medikamenten, das je von einem Menschen
entwickelt wurde. Es ist die rasierklingenscharfe Waffe der Wahrheit.
Christusmord ist ein wissenschaftliches Buch, denn es analysiert die Grundprobleme der menschlichen Existenz, und es ist kein wissenschaftliches Buch, weil die Begriffe und Kriterien,
mit denen Reich hier argumentiert so vollkommen subjektiv erscheinen, dass es kaum in einen anderen Zusammenhang gestellt werden kann als Reichs eigene Darstellung der Welt. Es ist kein Essay,
kein Roman, keine Biographie. Es ist kein religiöses Buch, denn Reich stellt sich auf einen streng wissenschaftlichen Standpunkt und doch ist es ein höchst spirituelles Buch, weil es die Existenz
Gottes in der lebendigen Natur besser nachvollziehbar macht als jedes andere Buch, das ich kenne. – Es ist Reichs Manifest des Lebendigen.
Christusmord zu lesen bringt entweder großen Genuss und geistige Stimulation, die Welt mit völlig neuen Augen zu betrachten – oder es frustriert, wenn man beginnt, innerlich mit Reich zu
argumentieren oder zu streiten. Reich drückt hier keine Meinungen aus – das tat er nie – er beschreibt, wie die Welt der Menschen aussieht, wenn man sie mit dem Blick des lebendigen Lebens
betrachtet. Reich unterschied immer streng zwischen Meinungen und Erkenntnissen, die auf fundierter Arbeit und sorgfältig erworbenem Wissen beruhen.
Eine zusätzliche Schwierigkeit mit diesem Buch mag darin liegen, dass Reich die orgonomischen Kriterien nicht noch einmal in allen Details erklärt, die er in all seinen anderen Büchern immer
wieder Punkt für Punkt erarbeitet hat. Dieses Buch war nicht als eigenständiges Werk gedacht, sondern als Archivmaterial, als Biographisches Material – Zur Geschichte der Entdeckung der
Lebensenergie, das sich ursprünglich nur an einen kleinen Leserkreis aus Reichs direktem Umfeld wandte, bei dem Grundkenntnisse des reich'schen Werkes vorausgesetzt werden konnten.
Trotz all dieser Einschränkungen möchte ich das Buch als Schlüsselwerk für das Verständnis von Wilhelm Reich empfehlen. Es ist leicht und sprachlich inspirierend geschrieben. Reich assoziiert
Gedankengänge und schreibt, wie ihm das Herz diktiert. Sein Charme, sein Charisma, von dem alle Menschen schwärmen, die ihn gekannt haben – Freunde wie Feinde – ist in jeder der Seiten präsent,
auch wenn er oft sehr düstere Themen anspricht. Es ist ein Buch, um Reich lieben zu lernen, und wer dazu nicht bereit ist, sollte die Finger davon lassen.
Reich beschreibt in Christusmord das menschliche Leben vom Standpunkt das Lebendigen, und damit meint er etwas völlig Konkretes: Der Mensch, der seit Jahrtausenden in emotioneller
Verkrüppelung zugebracht hat, hat das Leben in der Neurose als Normalität akzeptiert. Doch hier beginnt nun auch das grundlegend Gesunde im Menschen – der Kern, der genitale Charakter, –
sich darzustellen, seine Weltsicht zu veröffentlichen.
Fast alle wissenschaftlichen, sachlichen Werke sind vom Standpunkt der dritten Schicht aus geschrieben, d.h. sie sind ohne tiefen Kontakt mit dem natürlichen Wesenskern des Menschen. Wer diese
Bücher liest, spürt die Lebensferne, spürt, dass der Autor mit dem Kopf denkt und den Rest seiner Existenz abschneidet; man nennt diese Bücher "trocken", es fehlt ihnen die Saftigkeit des
Lebendigen. Viele andere Werke, die versuchen das Lebendige des Autors umzusetzen, bleiben in der destruktiven zweiten Schicht stecken: Autoren ergießen sich in aggressiver Rechthaberei,
zerreißen ihre vermeintlichen Gegner und spüren nicht, wie sehr sie damit dem Lebendigen in sich und im Leser Schaden zufügen. Ganz frei ist auch Wilhelm Reich nicht davon.
Nur wenige Bücher – meist belletristische – nehmen den Standpunkt des Lebendigen ein, schildern Leben, Liebe und Heldentum, indem sie für das Lebendige Partei ergreifen. Und nur in der Kunst
– in Musik, Bildern, Lyrik und in manchen Filmen – hat die erste Schicht im Menschen ein Reservat, in dem sie sich ausdrücken darf.
Die erste Bedeutung des Christusmord liegt also schon in der Tatsache, dass es das erste sachliche Werk ist, das die menschliche Existenz – sowohl das Individuum als auch die
Gesellschaft – aus dem Blickwinkel der ersten Schicht – dem Kern – betrachtet. Und hier mag auch der Grund liegen, warum viele Leser sich kopfschüttelnd vom Christusmord abwenden mögen.
Wer es gewohnt ist, mit den moralisierenden, auf political correctness und didaktische Sauberkeit achtenden Kriterien der dritten Schicht zu denken, wird Probleme haben, denn er sieht sich
innerlich mit genau dem Konflikt konfrontiert, den Reich im Christusmord beschreibt:
"Das lebendige Leben wird von Christus repräsentiert. Er ist einfach ungeniert gesund – und allein. Weil er so ist, wie er ist, erinnert er alle anderen Menschen an ihre emotionelle Verkrüppelung. Er ist faszinierend, die Menschen saugen sich mit seinem brillanten Charisma voll, doch sie können nicht so sein wie er, obwohl jeder Mensch diesen Christus, das ungepanzerte, nur lebendige Leben in sich trägt. Die Erkenntnis, dass sie so sein könnten wie Christus und dass sie dieses lebendige Erleben niemals erfahren werden, dass es nicht zu "haben" ist, diese Erkenntnis ist ein unerträglicher Schmerz. Die einzige Methode, sich Christus zu bemächtigen, ist seine Vernichtung. Und deshalb müssen sie ihn ermorden. Sie ermorden den Christus seither in allen Kindern, sie ermorden ihn in der natürlichen Umgebung und in sich selbst."
So einfach dieser Grundgedanke auch ist, so vielschichtig ist das, was daraus folgt. Das über die Jahrtausende aufgebaute Gebäude menschlicher Gesellschaft wird eingerissen, es riecht nach Verwesung, es schmeckt nur noch fade. Es ist wie die Aussage Christi, er könne den Tempel abreißen und in drei Tagen wieder errichten. Reich reißt den Tempel unserer Existenz ein und errichtet Gott, der natürlichen Kraft im Universum, einen neuen Tempel – und jeder Mensch ist ein Tempel Gottes in diesem Sinne.
Hatte Reich einen Christus-Tick? Allein die Frage verrät den Standpunkt! Reich hat die Bibel und die Christuslegende einfach ernst genommen, denn jeder Mensch ist Christus, jeder Mensch lebt
außer der Neurose auch den göttlichen, natürlichen Kern – mehr oder weniger verbogen, mehr oder weniger offen, mit mehr oder weniger schlechtem Gewissen. Und Reich war sich darüber im Klaren,
dass er diesen Kern in seiner eigenen Existenz sehr freigelegt hatte und dass er Christus dadurch sehr ähnlich geworden war. Reichs Identifikation mit Christus war kein Größenwahn wie bei Klaus
Kinski und keine Berechnung wie beim katholischen Klerus. Es war seine tagtägliche Empfindung, wie anders das Leben ist, wie sehr ihn seine Art, einfach natürlich zu existieren, von den anderen
Menschen trennte und ihn auf tragische Weise mit ihnen verband. Reich ahnte sein schreckliches Ende voraus. Er hat seinen Tod im Gefängnis nicht inszeniert, er ist tatsächlich wie Christus an der
emotionellen Pest gestorben. Dabei ist es unerheblich, ob Reich ermordet wurde, oder ob er an einem natürlichen Herzversagen starb. Die emotionelle Pest hatte ihn verfolgt – in Form einer
Pressekampagne voller bösartiger Unterstellungen, einer Gesundheitsbehörde, die einen konstruierten Fall lösen musste und in Form eines korrupten Staatsanwalts, der als ehemaliger
Rechtsanwalt Reichs sein Wissen über seinen Mandanten missbrauchte. Und die Pest hat Reich an diesem schrecklichen Ort – in einer Gefängniszelle in der Haftanstalt von Lewisburg, Pennsylvania –
krepieren lassen.
Christusmord ist "den Kindern der Zukunft" gewidmet, denn in jeder Generation, in jedem neuen Menschenleben wird Christus wiedergeboren, ist die Chance gegeben, dass das natürliche Leben
nicht gebrochen wird. „Die Kinder der Zukunft" ist Reichs Vision einer neuen Kultur des Menschen, in der die Gesetze des Lebendigen regieren. Reich sah keine Chance darin, dass unsere menschliche
Gesellschaft durch noch so geschickte Therapie einzelner oder durch politische Veränderung reformierbar wäre. Alle Versuche in unserer Geschichte in dieser Richtung sind gescheitert, und oft
haben sie die Situation verschlimmert. Der erste Schritt in die Richtung dieser neuen Kultur ist die Erkenntnis der Situation, die wir vorfinden, die Erkenntnis der Bedingungen, die das
natürliche Leben behindern. Nur indem diese Mechanismen aufgedeckt und benannt werden, können Menschen langfristig lernen sie auszuschalten. Deshalb richtet sich der Blick des Buches nicht auf
die Schönheit, Anmut und den natürlichen Liebreiz des lebendigen Lebens in der ersten Schicht. Das Buch erscheint unter dem Motto "Die emotionelle Pest der Menschheit". Es deckt auf, klärt auf,
erschreckt, es reißt der emotionellen Pest die Maske herunter, und es ist deshalb ein durch und durch revolutionäres Buch.
Ob Reichs Gedanken visionär sind oder unrealistisch, ist nicht von belang. Sollte es in der Zukunft der Menschheit jemals gelingen, eine natürliche, auf Liebe, Arbeit und Wissen gegründete
Gesellschaft aufzubauen, wird sie genau mit den Mechanismen zu kämpfen haben, die Reich im Christusmord beschreibt. So wie jeder Mensch (meist, ohne dies zu bemerken) täglich vor der
Entscheidung steht, das Lebendige in sich, in seinen Kindern und in seiner Umwelt zu schützen oder zu zerstören, so steht auch die Gesellschaft ständig in diesem Entscheidungskonflikt. Er geht
hier nicht darum, ob der Standpunkt der Grünen oder der der SPD oder der CSU unterstützt wird, es geht nicht um Atommüll oder um Arbeitslosigkeit. All das sind banale Nebenkriegsschauplätze
verglichen mit der täglichen Konfrontation des Lebendigen mit der emotionellen Pest.
Wilhelm Reich wird zurecht nachgesagt, ein zutiefst antireligiöser Mensch gewesen zu sein. Die Religion hat die Menschheit jahrtausendelang tiefer und tiefer in das emotionelle Elend
hineingetrieben, bis es unsere heutige Kultur erstmals geschafft hat, ein Wertesystem aufzubauen, das sich – zumindest theoretisch – auf rationale Erkenntnis bezieht. Erstmals wagen Menschen
öffentlich, sich die Grundfragen menschlicher Existenz zu stellen, ohne auf die vorgefertigten Dogmen von Priestern angewiesen zu sein. Doch die Trennung von Wissenschaft und Religion hat auch
ihre Schattenseiten, da sich die Menschen gleichzeitig von ihrer spirituellen Basis entfernten.
Reich stellt im Christusmord nicht mehr die Existenz Gottes in Frage, wie er es in früheren Schriften tat. Reich beschreibt Gott als die schöpferische Kraft im Universum, die er „Orgon“
nennt. Diese Energie ist nicht nur ein physikalischer Zustand, es ist die ordnende, lebendige, intelligente Kraft in der Natur. Und es gibt für Reich keine unbelebte Natur.
Doch die neurotische Struktur der Menschen führt dazu, dass sie in der dritten Schicht von ihren eigenen Grundlagen – von Gott – getrennt leben. Was Menschen in der dritten Schicht „Gott“ nennen,
ist ein Spiegel ihrer eigenen verzerrten Identität: der grausame, rächende Gott, der die Menschen aus Wut vernichtet oder aus einer Laune heraus rettet, flügelflatternde Baby-Engel, der
grinsende, fettgefressene Buddha – es sind Zerrbilder emotioneller Verstümmelung. Doch es ist jedem Menschen gegeben, Gott direkt zu erfahren, indem der ursprüngliche Kern wieder freigelegt und
gelebt wird. Diese gnostische Erfahrung, die Reich auch in den Lehren der großen Religionsstifter wiedergefunden hat, liegt als Möglichkeit in jedem Menschen. Sie sieht nur vom Standpunkt des
Lebendigen ganz und gar anders aus, als durch die Brille der dritten Schicht.
Reich schwärmt nicht von Gott, singt keine Choräle und schreibt nicht darüber, ob und was er betet. Aber Reich hat gebetet, auch wenn er das nie zugegeben hat. Er hat in seinen letzten
Lebenstagen seinem Sohn die "Betenden Hände" von Dürer als Postkarte hinterlassen mit der Aufschrift: "Für Pete, damit er danach betet:" Er hätte diese Zeilen nie geschrieben, hätte er nicht
selbst mit seiner ganzen Existenz dahintergestanden.
Reich hat also nicht an die Orgonenergie geglaubt, einen Kunstbegriff, ein Wort, das beliebig austauschbar ist. Er wusste, was Gott ist, er hat ihn erfahren, hat ein im besten Sinne spirituelles
Leben geführt, auch wenn das für heutige Menschen, die Spiritualität als ein bestimmtes Verhalten mißverstehen, kaum nachvollziehbar ist.
Christusmord ist eine gründliche Absage an jedes Reichianertum und an jede Religion – aber ein Plädoyer für die direkte Erfahrung Gottes.
Jürgen Fischer