Sexualität
und
Spiritualität
von Jürgen Fischer
ePUB
3,7 MB
DRM: Wasserzeichen
ISBN-13: 9783743193864
Verlag: Books on Demand
Erscheinungsdatum: 28.05.2018
Sprache: Deutsch
0,99 €
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Es gab in den letzten zwei Jahrzehnten eine
deutliche Hinwendung zu neuen Formen, Sexualität und Spiritualität miteinander zu verknüpfen, am deutlichsten ausgeprägt in den verschiedensten Angeboten des „Neo-Tantra“, ausgelöst vor allem
durch den indischen Guru Osho und seine Schüler, die sich „Sannyasins“ nennen.
Nachdem die Sexuelle Revolution der 70er Jahre in den 80ern weitgehend stagniert war und in Kommerzialisierung, Pornographie und Frustration geendet hatte, brachte die Neo-Tantra-Bewegung in den
90er Jahren einen völlig neuen Schwung in die Diskussion dessen, was die Qualität von Sexualität ausmachen kann. Das halte ich für sehr erfreulich. Aber damit hat meine Freude über Neo-Tantra
auch schon ihre Grenze erreicht.
Ich kann nicht leugnen, dass ich den Tendenzen des Neo-Tantra überaus kritisch gegenüberstehe. Ich habe dies in meinem Buch „Sexuelle Liebe im JETZT – Tantra und die zweite sexuelle Revolution“
beschrieben und werde das hier nicht noch einmal in dieser Ausführlichkeit wiederholen. Dennoch möchte ich einiges über den Zusammenhang zwischen Spiritualität und Sexualität sagen, einfach, weil
es ein wichtiger Aspekt des Lebens von vielen derjenigen ist, die heute fünfzig oder sechzig Jahre alt und älter sind. Diese Generation ist diejenige, die in den 70ern die sexuelle Revolution
erlebt und gestaltet hat und die in die Welt hinausgezogen ist und neue (alte) spirituelle Traditionen in diese Kultur gebracht hat.
Ich habe selbst ab 1972 die erste hinduistische Meditationsschule besucht, die sich damals neu in Berlin etablierte. Das war TM, die Transzendentale Meditation von Maharishi Mahesh Yogi und ich
habe das auch relativ fleißig praktiziert bis ich 1977 beim 16. Karmapa zum tantrischen Kagyü-Buddhismus Zuflucht genommen habe, den ich bis 1990 sehr ernsthaft praktiziert habe. Ich war fünf mal
mehrere Monate lang bei meinem Tantra-Meister Tenga Rinpoche in Nepal, habe hier in Deutschland mehrere buddhistische Zentren aufgebaut und verschiedene Leitungsfunktionen ausgefüllt und ich habe
mich dann aus guten Gründen völlig von allen asiatischen Meistern und Traditionen getrennt. Das hatte einerseits persönliche Gründe, aber die Konflikte, die sich ergaben, waren übergeordnete
kulturelle Konflikte – sie kulminierten in der Forderung der Lamas, ich sollte unseren fünfjährigen Sohn wegen angeblicher homosexueller Tendenzen körperlich züchtigen oder ihm zumindest alle
homoerotischen Spiele verbieten. Er und ein etwas älterer Freund hatten sich gegenseitig ihre Penisse gezeigt und berührt. Das war herausgekommen und hatte im buddhistischen Institut einen
Skandal heraufbeschworen. Der andere kleine Junge wurde deswegen von den Lamas schwer misshandelt. Der „clash of the cultures“ stand im Hintergrund dieser Konflikte: der Zusammenprall der streng
patriarchalischen, monastischen und theokratischen Kultur Tibets mit den Werten der sexuellen Revolution der westlichen Jugend. Die Lamas, die gerade frisch aus Tibet gekommen waren, forderten
die völlige Unterordnung unter ihre Werte ein, und das kollidierte mit den Wertvorstellungen derjenigen Subkultur, die als „68er“ auch in der westlichen Gesellschaft für eine radikale
Neugestaltung gesellschaftlicher und moralischer Werte stand. Fast alle Buddhisten, die sich damals tiefer in die Lehre hinein knieten, gerieten immer wieder in diese Konfliktzone, vielleicht
nicht so krass und existentiell, wie es mir und meiner Familie geschah: Meine Frau, unsere zwei Kinder und ich wurden damals von den Buddhisten gnadenlos von einem Tag zum anderen in die
Obdachlosigkeit verstoßen, weil wir uns weigerten, uns ihren Werten kritiklos zu unterwerfen. Sexuelle Zwangsmoral, Homophobie und Gewalt gegen Kinder waren für uns grundsätzlich indiskutabel und
dass wir darauf bestanden, diese Werte über das Gebot der Hingabe zum Guru zu stellen, war die Nagelprobe.
Auch wenn diese Erfahrung für uns damals existenziell bedrohliche Konsequenzen hatte – wir mussten Jahre in bitterer Armut verbringen und uns alles völlig neu aufbauen: Geldverdienst, Wohnung,
Freundschaften, soziales Umfeld, alles war von einem zum anderen Tag völlig zerstört worden. Dieser Konflikt brachte mich jedoch dazu, mich nie wieder von irgendwelchen Organisationen oder
Bewegungen abhängig zu machen. Ähnliches – die Grausamkeit der emotionellen Pest – hatte ich auch schon einst mit den linken Genossen erlebt und ebenso mit der AA-Kommune Otto Muehls und auch mit
den Reichianern. Die Konflikte mit den tibetischen Lamas sensibilisierten mich darin, bei Gurus, spirituellen Organisationen und Kulten, bei oberflächlich positiv auftretenden spirituellen,
politischen und sozialen Angeboten jeglicher Couleur, genauer hinzusehen – ganz besonders, was die Verbindung zwischen Spiritualität und Sexualität angeht.
Wahrscheinlich trete ich mit dem, was ich hier zu sagen habe, vielen Lesern erheblich auf die Zehen, nicht nur den Buddhisten. Meine Kritik an religiösen und spirituellen Kulten und Überzeugungen
ist fundamental. Wer sich einem spirituellen oder religiösen Weg verpflichtet fühlt, ist oft geneigt, jede Kritik daran als persönlichen Angriff zu werten. Es ist jedoch nicht meine Absicht,
irgendjemanden zu beleidigen.
Ein wesentlicher Aspekt der sexuellen Revolution der sechziger und siebziger Jahre war der enorme Machtverlust der christlichen Kirchen. Sie verloren ihren Status als übergeordnete moralische
Instanz der westlichen Kulturen. Dieser Prozess hatte mit der Aufklärung im 17. Jahrhundert und der französischen Revolution begonnen und er ist immer noch nicht abgeschlossen. Erst in den
letzten Jahren wurden die Missbrauchsskandale und Gewaltübergriffe gegenüber Kindern und Jugendlichen bekannt und erst heute kümmert sich eine kritische Öffentlichkeit um die enormen ökonomischen
Werte, die von den Kirchen über die Jahrhunderte angehäuft und geheimgehalten wurden, während sie gleichzeitig aus öffentlichen Mitteln finanziert werden. Die christlichen Kirchen gehören heute
zu den reichsten und machtvollsten Konzernen.
Der Kern der moralischen Entmachtung der Kirchen ist die Erkenntnis, dass zwischen den christlichen Ideologien von Liebe, Vergebung und Seelenheil und der gesellschaftlichen Realität, die in den
Kirchen praktiziert wird, ein eklatanter Widerspruch besteht, der nicht mehr ignoriert werden kann.
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