Als 1971 die deutsche Ausgabe von Wilhelm Reichs Buch »Die sexuelle Revolution« wieder aufgelegt wurde, studierte ich seit einem Jahr an der Freien Universität Berlin Politikwissenschaft, Publizistik, Germanistik und Erziehungswissenschaft. Es war die Blütezeit der Studentenrevolte. In allen Studiengängen wurden marxistische Grundlagen gelehrt, und die Studenten fühlten sich als Speerspitze einer grundsätzlichen gesellschaftlichen Veränderung, einer kurz bevorstehenden sozialistischen Revolution in Deutschland und in der gesamten westlichen Welt, die systematisch vorbereitet werden sollte. Fast alle linken Studenten waren überzeugt, dass diese Revolution kurz bevorstand, und wir sahen es als unsere Aufgabe an, die Fehler der Revolutionen in Russland und China und erst recht der Staaten des Ostblocks, denen nach dem Krieg ein sozialistisches System aufgezwungen worden war, zu vermeiden.
In den Universitätsstädten hatte sich in den Jahren zuvor eine studentische Subkultur entwickelt, in der die jungen Menschen begonnen hatten, ihr Leben nach anderen Kriterien einzurichten, als
sie es aus der bürgerlichen Kultur ihrer Elternhäuser kannten. Es bildeten sich Kommunen und Wohngemeinschaften, Lebensgemeinschaften auf Zeit, die ihre Ursache zuallererst im chronischen
Geldmangel der Studenten hatten. Es war einfach billiger, sich eine große Wohnung zu teilen und die grundsätzlichen Lebenshaltungskosten gemeinsam zu bestreiten. Aber es gab auch die Seite, die
zwangsläufig daraus resultierte: der allmächtigen Überwachung von überwiegend konservativen Elternhäusern, Kirche und bürgerlichen Moralvorstellungen entkommen zu können. Und so sahen wir die
Notwendigkeit, unser soziales und damit auch sexuelles Miteinander neu zu organisieren. Damals gab es in Westberlin eine besondere Situation. Da Westberlin besetztes alliliertes Territorium war,
konnten Berliner nicht zur Bundeswehr eingezogen werden. Es kamen Tausende junger Männer nach Berlin, meldeten hier ihren ersten Wohnsitz an und waren dem Militärdienst entronnen. Und das taten
sie nicht nur wegen der damit gewonnen Jahre, sondern weil sie sich nicht dem militärischen Drill aussetzen wollten und dem damit verbundenen Risiko, dass ihnen von Schleifern, die zum Teil noch
aus der Zeit des Nationalsozialismus übriggeblieben waren, das emotionelle Rückgrat gebrochen wurde. Es waren also die rebellischen, aktiveren und zu Experimenten bereiten jungen Männer, die nach
Berlin kamen. Für mich galt das nicht – ich bin in Westberlin aufgewachsen.