Auszug aus der 3. Auflage des Buches "Sexuelle Liebe im Jetzt"
Wozu eine zweite sexuelle Revolution? Die erste sexuelle Revolution hat das soziale, juristische und moralische Umfeld der sexuellen Beziehungen verändert. Die zweite sexuelle Revolution bezieht sich einzig auf das wirkliche Erleben der beiden Menschen, die sich in der aktuellen Situation, hier und jetzt, sexuell begegnen.
Auch wenn die erste sexuelle Revolution vieles verändert hat – das tatsächliche sexuelle Verhalten, die konkrete Situation zwischen zwei Menschen läuft im großen und ganzen noch genauso ab wie zu
Zeiten unserer Großeltern. Ganz langsam legen die Menschen ihre falsche Scham ab, reden miteinander, sehen sich während der Vereinigung auch in die Augen, beginnen zu beachten, was der Partnerin
oder dem Partner gefällt. Aber diese Veränderungen brauchen viel länger, als die äußerlichen Liberalisierungen in der Gesellschaft.
Die zweite sexuelle Revolution ist daher keine ökonomische, gesellschaftliche oder soziale Revolution, sondern eine in der Struktur eines jeden Menschen. Was nun geschieht, kann nur zwischen zwei
Menschen geschehen, die sich in der körperlichen Liebe vereinen. Um überhaupt in diese Situation kommen zu können, mussten die Menschen zuvor von der Sexualmoral – also der gesellschaftlichen
Kontrolle des sexuellen Verhaltens – befreit werden, wie etwa der Zwangsehe »bis dass der Tod euch scheidet«, oder dem Gelübde von Priestern, die gegen ihre Natur asketisch leben müssen und die
von allen Menschen verlangten, dass selbst in der Ehe Sexualität ausschließlich der Zeugung von Kindern dienen dürfe, oder auch dem moralischen Imperativ, dass Mädchen bis zur Ehe jungfäulich
bleiben müssen. Diese Moral galt noch in meiner Kindheit, auch wenn ich als Kind und Jugendlicher in den 50er und 60er Jahren fühlte, dass die Erwachsenen sie nicht mehr wirklich ernst nahmen.
Als Reich 1935 das Fiasko der bürgerlichen Sexualmoral beschrieb und völlig andere, utopische sexualökonomische Bedingungen formulierte, war das, was er schrieb, schockierende, unerhörte Polemik,
völlig inakzeptabel für die damalige bürgerliche Kultur. 35 Jahre später, also nach einer weiteren Generation, wurden seine Forderungen von einer aufbegehrenden Jugend umgesetzt. Heute, noch eine
Generation später, sind sie weitgehend allgemeingültig.
Natürlich hatte die sexuelle Revolution auch eine andere Seite: die extreme Pornographisierung der Medien. Faktisch alle Produkte, die an ein männliches Publikum verkauft werden sollen, werden
mit Bildern von nackten Frauenkörpern angeboten; nachts ferzusehen heißt, sich einer Flut pornographischer Werbung auszusetzen, und Comedians im Familienprogramm überbieten sich gegenseitig mit
sexuellen Zoten. Ich denke, dass diese Erscheinungen ein notwendiger Aspekt der sexuellen Revolution sind. Die Befreiung der Sexualmoral gilt auch für alle neurotischen Aspekte der Kultur. Und
die neurotischen Zwänge der Menschen für kommerzielle Interessen auszunutzen, ist ein Teil der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Das heißt: Die gewonnene Freiheit gilt auch für diejenigen, die aus
der Zwangslage neurotisch gestörter Menschen ihren Profit ziehen wollen.
Die zweite sexuelle Revolution ist nichts, was Menschen »machen« können, sondern etwas, was du zulassen kannst: auch deine Sexualität der Selbstregulation des Lebendigen zu übergeben und Liebe
zuzulassen. Es ist deine rein persönliche Entscheidung, so wie die jedes anderen Menschen, der diese Revolution für sich akzeptiert. Nun, da die äußeren Verhältnisse sich geändert haben, hast du
die Freiheit, die Sexualmoral früherer Generationen auch aus deinem Verstand, deinen Gefühlen und Handlungen zu verbannen. Was das praktisch bedeutet, davon handelt dieses Buch. Deshalb geht es
hier auch nicht um einen weiteren Sexualratgeber, sondern um dein Leben, darum, ob und wie du verstehst, dass es im Menschenleben um die Liebe geht, um die gelebte Liebe, die du mit einem
geliebten Menschen körperlich lebst. Es geht kurz gesagt darum, die gesunden, genitalen Anteile in deiner Chakterstruktur zu erkennen und zu wissen, dass du dich auf diese beziehen kannst. Und um
dies zu erreichen, ist es nötig zu erkennen, wann diese natürliche Ebene aktiv ist und wann du im Schmerz bist, also wann der Schmerzkörper bestimmt, wie du lebst. Deshalb ist die
Schmerzkörperarbeit so wichtig. Wenn du gelernt hast, den Schmerz zuzulassen und ihn zu belassen –, also ihn anzusehen, anzuerkennen und ihn nicht abzuwehren oder zu unterstützen –, dann kannst
du genauso auch das Lebendige in dir erkennen und dich der Selbstregulierung des Lebendigen hingeben. Kannst du es also wagen, gesund zu sein?