Weiterlesen: Wenn die Welle bricht - Wilhelm Reich und die Funktion des Orgasmus - Eine Neubewertung
Es ist die Funktion des Orgasmus, hohe Energieladungen, die im Körper gespeichert sind, lustvoll zu entladen. Das ist die zentrale Entdeckung Wilhelm Reichs gewesen, als er in jungen Jahren zum Schüler Sigmund Freuds geworden war.
Die körperliche Energie-Entladung im Orgasmus, die alle Menschen subjektiv als lustvolle Sensation erleben, hatte Reich als erster Arzt genauer nach vielfältigen unterschiedlichen Gesichtspunkten erforscht: Was findet eigentlich physiologisch und seelisch beim Orgasmus statt?
Das Thema Sexualität geht seinem Wesen nach quer durch alle wissenschaftlichen Forschungsgebiete. Im Zentralphänomen, dem sexuellen Orgasmus, treffen sich Fragestellungen aus dem Gebiete der Psychologie ebenso wie dem der Physiologie, aus dem der Biologie nicht minder wie dem der Soziologie. Es gibt in der Naturwissenschaft kaum ein zweites Forschungsfeld, das derart geeignet wäre, die Einheitlichkeit des Lebendigen darzubieten und vor engem, trennendem Spezialistentum zu bewahren. Die Sexualökonomie wurde eine selbständige Disziplin, mit eigenen Forschungsmethoden und neuen Tatsachen ausgestattet. Sie ist eine naturwissenschaftliche, experimentell fundierte Theorie der Sexualität. (W.R. Die Entdeckung des Orgons - Die Funktion des Orgasmus, S. 13)
Im Idealfall erleben Menschen im Orgasmus, dass sich alle Muskeln des Körpers nacheinander sanft zusammenziehen und wieder entspannen. Damit wird die Energie jedes Muskels entladen. Dieser Reflex läuft als eine weiche Welle über die gesamte Muskulatur.
Jeder kann dies beobachten: Wenn man einer entspannten Katze sanft über den Rücken streicht – vom Kopf den Rücken entlang – kann man oft sehen, wie danach eine Muskelwelle vom Becken der Katze nach oben zum Kopf läuft und eventuell auch wieder zurück. Das Streicheln hat Energie auf die Katze übertragen. Die Katze erfährt einen Energieüberschuss, der in dieser Muskelwelle wieder entladen wird. Das geschieht unwillkürlich. Natürlich ist das kein Orgasmus, es ist der Orgasmusreflex. Dieser Reflex ist nicht zwingend an die sexuelle Funktion gebunden, auch nicht beim Menschen.
Was die Sache für Menschen sehr kompliziert macht: die vollständige ungebrochene Entladung in einer weichen Muskelwelle, die man bei fast jeder Katze beobachten kann, können Menschen meist nicht erleben. Durch traumatische Erfahrungen vom Baby bis zum Erwachsenen sind viele Muskeln chronisch kontrahiert. Menschen haben vor Angst »den Atem angehalten«, »den Bauch eingezogen« oder ihnen ist das Weinen »im Hals steckengeblieben«. Viele emotionelle Verletzungen haben dazu geführt, dass chronisch kontrahierte Muskeln und Muskelgruppen den Körper einschnüren wie feste Bandagen. Die Muskeln – und es handelt sich in erster Linie um die unwillkürliche und unbewusste vegetative Muskulatur – können nicht mehr vollständig entspannen, und sie stehen daher nicht mehr für den Orgasmusreflex zur Verfügung. Die Welle der lustvollen Entladung stoppt, wenn sie auf derart kontrahierte Muskeln trifft.
Der Unterschied zwischen dem Orgasmusreflex bei der Katze und dem bei den meisten Menschen ist offensichtlich. Während die Katze recht cool dasitzt und die Welle völlig entspannt über ihren Körper läuft, zucken und winden Menschen sich im Orgasmus, sie stöhnen und verzerren ihr Gesicht. Der Körper versteift sich zunächst und aus dieser starken Anspannung heraus läuft das Geschehen ab.
Ob die Katze diese Welle, die über ihre Muskulatur läuft, wohl als lustvoll empfindet? Man kann das nicht wissen, aber erahnen, denn Katzen sind in dieser Hinsicht völlig kompromisslos: Wenn eine Erfahrung nicht lustvoll – also schmerzhaft oder störend – ist, verlassen sie sofort den Ort des Geschehens. Katzen tun sich ein schmerzhaftes Erlebnis gar nicht erst an, schon gar nicht in dieser Intensität. In dieser Hinsicht könnten Menschen von Katzen noch einiges lernen. Man kann also recht sicher annehmen, dass Katzen den Orgasmusreflex als lustvoll erleben.
Die meisten Menschen erleben den Orgasmusreflex nicht so entspannt wie eine Katze. Menschen »zucken«. Dieses Zucken – und das ist, was fast alle Menschen im Orgasmus erleben, und was viele für äußerst lustvoll halten – ist der Tatsache geschuldet, dass einzelne Muskeln oder Muskelgruppen sich plötzlich zusammenziehen und andere nicht, weil sie schon zusammengekrampft sind. Bei der Katze ist der weiche Verlauf des Orgasmusreflexes zu sehen. Jeder Muskel zieht sich sanft zusammen und entspannt sich wieder. Das krampfartige Zucken beim menschlichen Orgasmus ist der Tatsache zuzuschreiben, dass der Reflex plötzlich und heftig einsetzt. Und damit ist die Entspannung behindert, denn ein Muskel, der plötzlich kontrahiert, kann sich nicht mehr so leicht entspannen wie ein Muskel, der sich sanft und geschmeidig bewegt.
Du kannst das selbst ausprobieren: öffne deine Hand und stecke die Finger möglichst weit. Dann bilde in einer sanften Bewegung eine Faust. Öffne die Hand wieder ebenso sanft. Jetzt wiederhole denselben Bewegungsablauf in einer heftigen, zuckenden Bewegung. Du wirst wahrscheinlich danach einen leichten Schmerz in der Muskulatur spüren.
Beim Orgasmusreflex geht es jedoch um die unwillkürliche Muskulatur, die vom Menschen nicht bewusst gesteuert werden kann und die allein vom Vegetativum, also vom unbewussten Nervensystem, gesteuert wird. Es ist die Muskulatur der Atmung, der Verdauung und so weiter. In dieser Muskulatur werden traumatische Erfahrungen regelrecht gespeichert, festgehalten. Es sind Krämpfe, Muskelkrämpfe, also Spasmen, die genauso hartnäckig und unberechenbar sind wie Wadenkrämfe, die jeder wohl schon leidvoll erlebt hat.
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